Der letzte Sommer – Micha Eicher

Sie mag eigentlich keine Campingplätze: Doch dieser hier ist anders. Micha Eicher aus Luzern hat den «letzten Sommer» des Campingplatzes Merlischachen festgehalten und selbst dort gelebt. Der Platz muss per Ende September seine Tore schliessen, da das Land verkauft wurde. Michas Fotos sind ungeschönt, direkt und treffend. Entstanden ist eine Mischung aus Portäts, vermeintlich idyllischen Landschaftsfotos, skurilen Details und eindrücklichen Texten. Alles wird nun in einem Buchprojekt vereint. Pixelnews hat Micha Eicher zum Interview geladen und spricht mit Micha über Campingplätze, Fotografie und den Zauber eines neuen Projekts.

Pixelnews: Liebe Micha, könntest du uns zunächst erzählen, wie du auf die Idee zu diesem Buchprojekt gekommen bist und was dich dazu inspiriert hat, den «letzten Sommer» auf diesem Campingplatz festzuhalten?

Das ist wirklich lustig, weil ich ja eigentlich Campingplätze nicht wirklich mag. Aber Merlischachen haben wir vor sieben Jahren nach einem Ferientripp in Italien zufällig entdeckt. Wir wollten nicht zurück ins Hamsterrad und waren mal ein Wochenende dort, standen direkt am See und fanden; wow, jetzt sind wir schon so viel gereist, aber so nah am Wasser waren wir noch nie!. Seither sind wir jedes Jahr für ein paar Wochen mit unserem alten VW-Bus in Merlischachen und arbeiten so viel wie möglich remote von dort aus. Als ich erfahren habe, dass der Platz zugeht, wusste ich: Seine Geschichten und Gesichter möchte ich in einem Buch festhalten.

Micha Eicher auf dem Campingplatz in Merlischachen / Foto: Oliver Becker

Pixelnews: Der Campingplatz in Merlischachen ist offensichtlich ein Ort mit vielen Geschichten und Bedeutungen für die Menschen. Wie hast du es geschafft, diese Vielfalt an Emotionen und Erinnerungen in deinen Fotografien einzufangen?

Indem ich selber dort gelebt habe und mittendrin war. Ich habe viele Leute angequatscht, sie nach ihren Geschichten und Erinnerungen gefragt. Und ich war auch bei spontanen Aktivitäten, Feiern und Stürmen vor Ort und konnte so authentische Bilder machen.

Pixelnews: Das Buchprojekt «der letzte Sommer» handelt nicht nur von der Schönheit des Ortes, sondern auch den drohenden Verlust und den Veränderungen, die damit einhergehen. Wie hast du versucht, diese Mischung aus Hoffnung und Abschied in deinen Bildern darzustellen?

Spannend ist, dass am Anfang die Trauer sehr viel grösser warals die Hoffnung. Und mit der Zeit hat sich das auf das Geniessen des Momentes verschoben. Die Menschen haben mehr angefangen, im Moment zu leben, gemeinsame Feste zu organisieren, Geburtstage eines Nachbarn zu feiern. Solche Sachen gab es früher eher wenig. Das Wissen ums Ende hat auch was mit den Menschen gemacht. Plötzlich gab es eine ganz eigene Dynamik. Wer weiss schon, was morgen ist. Ist das nicht auch im Leben so?

Pixelnews: Du erwähnst, dass die Menschen auf dem Campingplatz ihre letzten Momente dort auf einem Polaroid-Foto festhalten. Könntest du uns mehr darüber erzählen, wie diese Idee entstanden ist und welchen zusätzlichen Erzählstrang sie in deinem Buch ergibt?

Ich wollte den Menschen, die am Buchprojekt mitmachen auch etwas zurückgeben. So entstand die Idee, für sie ein letztes Bild zu fotografieren. Eins, von dem sie den Inhalt wünschen können. Dass es ein Polaroid war, lag auf der Hand, weil diese analoge Technologie aus den 1970ern auch die Blütezeit des Campingplatzes repräsentiert. Und ich mag diese künstlerische Art des Sofortbildes, jedes ist ein Unikat und immer eine Überraschung. Ich selbst fotografierte jedes der Pola-Fotos mit meiner Leica in einem typischen Setting der jeweiligen Porträtierten. Sei es auf ihrem Campingtisch, an ihrer Wohnwagentür oder beim Kochen. Quasi ein Porträt im Porträt.

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Der Campingplatz Merlischachen hat offensichtlich eine starke Verbindung zur Natur und zur Umgebung. Wie hast du versucht, diese Verbindung in deinen Fotografien sichtbar zu machen?

Ja, er ist landschaftlich sehr idyllisch, wenn man Richtung See schaut. Jedoch entsteht auf der anderen Seite im Kontrast dazu eine Grossüberbauung. Das Land ist sehr zerstückelt und umfasst nur noch ein Teil des ursprünglichen Campingfläche. Baukräne, Verbotsschilder und verlotterte Gebäude: Das alles fliesst in meinen Bildern ein und bricht das Idyllische oftmals auf den zweiten Blick. Zudem habe ich auch bei Regenwetter und Sturm fotografiert. Dann ist man schon sehr nah bei den Elementen…

Pixelnews: In deinem Projekt geht es nicht nur um Fotografie, sondern auch um Geschichten und Porträts von Menschen. Gab es eine Geschichte oder ein Porträt, das dich besonders berührt hat? Könntest du uns davon erzählen?

Ja, davon gab es einige. Viele Menschen sind mit diesem Flecken Land sehr emotional verbunden. Eine Frau hat mir mit Tränen in den Augen erzählt, dass das hier ihre Heimat sei, ihr Paradies. Sie wohnt nicht weit weg und verbringt seit 30 Jahren jede freie Minute auf dem Camping. Sie sagte, dass sie nicht wisse, wie es weitergehe, wenn sie hier nicht mehr sein könne. Aber auch von ihrer Hoffnung und dass sie diese Gedanken jetzt einfach verdränge, um den Sommer noch einmal zu geniessen. Zu erfahren, wie nah Hoffnung und Hoffnungslosigkeit beisammen liegen, hat mich sehr berührt. 

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Als Fotografin hast du die Möglichkeit, intime Momente und Emotionen der Menschen einzufangen. Wie gehst du dabei vor, um sicherzustellen, dass deine Fotografien sowohl authentisch als auch respektvoll sind?

Das ist für mich ein mega wichtiger Punkt. Ich habe immer – vorher oder nachher – gefragt und ihnen auch die Bilder gezeigt. Aber das Schöne war auch, dass die Menschen mir einfach Einlass geboten. Ich habe sehr viel Einblick erhalten und auch sehr viel Wertschätzung erfahren. Mir ist der Kontakt mit den Menschen wichtig, dass sie mir vertrauen und wissen, dass es mir um ihre Geschichte geht und nicht darum, sie blosszustellen. Und dann gibt es auch jene, die einfach Freude haben, ihre persönlichen Momente zu teilen, wie dieses holländische Paar mit der Gesichtsmaske, die sich ohne Wenn und Aber ablichten liessen. Ein Glücksfall für jedes Fotografinnenherz.

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Die Menschen auf dem Campingplatz scheinen eine besondere Beziehung zu diesem Ort zu haben. Wie hast du versucht, diese Verbundenheit in deinen Bildern einzufangen, insbesondere angesichts der bevorstehenden Veränderungen?

Vieles habe ich mit ihnen zusammen gestaltet, sie nach ihren Lieblingsorten und Lieblingstätigkeiten gefragt. Wenn ein Mensch in einer Sache aufgeht, entsteht die Verbundenheit automatisch. Da musste ich nur noch da sein mit meiner Kamera.

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Deine Fotografien zeigen sowohl die Schönheit als auch die Vergänglichkeit dieses Ortes. Wie hast du versucht, diese Balance zwischen positiven Erinnerungen und der Realität des Abschieds zu bewahren?

Ich glaube, es war einfach beides immer wieder präsent. Es ist ein Kommen und Gehen und die Abschiede waren genauso da wie das Geniessen des Momentes.

Pixelnews: Deine eigene Beziehung zu Campingplätzen war vor diesem Projekt nicht besonders positiv. Wie hat sich deine Einstellung durch die Arbeit an «der letzte Sommer» verändert?

Ja, Campingplätze sind mir meist zu gross und zu reguliert parzelliert. Merlischachen ist eine Ausnahme: klein, fein mit grossen Wiesen unter alten Bäumeneine einzigartige Lage und ein familiärer Umgang. Es ist mittlerweile eher wie eine Community, eine Schicksalsgemeinschaft als ein Campingplatz.

Pixelnews: Deine Fotos sind laut Beschreibung «ungeschönt, direkt und treffend». Könntest du uns mehr darüber erzählen, wie du deine persönliche künstlerische Vision in diesen Bildern umgesetzt hast?

Mir war es wichtig, nicht einfach touristisch schöne Bilder zu machen. Ich wollte auch das Skurrile, das Bedrohliche und das Klischeehafte einfangen. Haben doch einige Menschen ihre Vorurteile gegen Campierende, das bietet Futter für einen wachen Blick. Umgesetzt habe ich das mittels der Reportagefotografie: mich immer wieder zurücknehmen, mit Aussenblick auf das Geschehen blicken, die aussergewöhnliche Perspektive suchen.

Pixelnews: Die Realität der Verdrängung und des Verlusts wird oft in deinen Bildern spürbar. Wie möchtest du, dass die Betrachter*innen deiner Fotografien auf diese Themen reagieren und reflektieren?

Ich möchte, dass sie sich bewusst werden, dass unsere Freiräume endlich sind. Gerade an Seen ist das in der ganzen Schweiz schon krass. Auf der einen Seite nimmt der Nutzungsdruck auf immer weniger Flächen zu und auf der anderen Seite sind riesige Flächen privat und werden kaum genutzt. Wieviel wollen und können wir teilen und was bedeuten uns solche Räume als Gesellschaft? Dies möchte ich gerne reflektieren. Wir haben da ja immer auch eine politischeEinflussnahme. 

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Das Buchprojekt enthält neben den Fotografien auch eindrückliche Texte. Wie hast du versucht, die visuellen und textlichen Elemente miteinander zu verknüpfen, um eine tiefere Botschaft zu vermitteln?

Indem ich den Menschen eine Stimme gab. Ihre Geschichten untermalen die Fotos. Ich finde die Kombination von Zitaten und Fotos eine super Möglichkeit, um verschiedene Erzählstränge zu verflechten. Da hilft mir wohl meine journalistische Grundbildung.

Pixelnews: Die Idee des «letzten Sommers» birgt eine gewisse Melancholie in sich. Wie hast du versucht, trotzdem Humor und Authentizität in deinen Bildern zu bewahren?

Indem das Augenzwinkern auch Platz einnimmt. Ich finde, der Umgang mit Veränderung bringt auch einen Fokus auf den Moment mit sich. Auch ein Foto ist eine Momentaufnahme. Viele meiner Fotos sind fröhlich, ja sogar lustig oder skurril. Ich glaube, die porträtierten Menschen selbst haben diese Mischung gemacht, nicht ich.

Pixelnews: Abschließend, Micha, was möchtest du erreichen oder vermitteln, wenn Menschen dein Buch «der letzte Sommer» betrachten? Welche Botschaft oder Emotion möchtest du, dass sie mitnehmen?

Ich möchte, dass sie sich von den Geschichten und Gesichtern der porträtierten Menschen berühren lassen. 

Foto: Micha Eicher, scharfsinn.ch

Pixelnews: Micha, könntest du uns bitte sagen, wann und wo dein Buch «der letzte Sommer» verfügbar sein wird? Gibt es bereits Pläne für eine Veröffentlichung oder eine Ausstellung deiner Fotografien? Wie kann man das Buchprojekt unterstützen?

Das Buch werde ich spätestens im Frühling 2024 fertigstellen, mit Druck und Produktion rechne ich mit einem Erscheinungstermin im Sommer 24. Im Moment bin ich die Finanzierung am Aufgleisen, darum habe ich ein Crowd-Funding lanciert mit verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten (https://www.scharfsinn.ch/der-letzte-sommer/#Crowdfunding). Da lässt sich das Buch auch vorbestellen und es gibt Sponsoringmöglichkeiten für Firmen. An eine Ausstellung denke ich dann später (lacht).

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