Pixelpraxis mit Ralf Turtschi: Kleine Pilzkunde

Nach einem ausgiebigen Regen schiessen die Pilze aus dem Waldboden. Eine kleine fotografische Erkundungstour durch die heimischen Wälder.

Der Buchen-Schleimrübling wächst auf umgefallenen Buchen

Draussen in der Natur warten Schätze auf dich. Nicht nur die grossartigen Berge und Hügelzüge, auch Wälder mit ihren kleinen Schätzen machen unser Zuhause so lebenswert. Wir sollten nur Augen und Herz dafür öffnen. Vom Spätsommer bis in den Herbst tut sich auf dem Waldboden ein Paradies für Pilzfotografinnen auf. Die weissen Buchen-Schleimrüblinge wachsen auf umgestürzten Buchen in Grüppchen bis hin zu ganzen Kulturen. Als junge Pilze sind sie zwei bis drei Zentimeter gross und bilden eine kugelige Kuppel auf dem Stiel. Später entfaltet sich ein lamellenbesetzter Schirm, am Stiel bleibt ein kleiner Ring. Die Lamellen sind durchscheinend und nur von unten sichtbar. Der fotografische Reiz liegt darin, von unten an die Pilze zu gelangen. Dazu halte ich in Buchenwäldern nach vermoosten umgestürzen Bäumen Ausschau. In wohlgepflegten und aufgräumten Wäldern findet man sie nicht. Die Buchen-Schleimrüblinge befinden sich also in Höhen von etwa 20 bis 50 Zentimeter ab Boden. 

«Draussen in der Natur warten Schätze auf dich»

Während des Wachstums öffnen sich die Kugeln zu Schirmen, die dann eine Grösse von über 10 Zentimeter erreichen können.

Pilze kannst du aus unterschiedlichen Blickwinkeln fotografieren. Von oben, seitlich oder von unten. Es kommt nun auf die Beschaffenheit der Pilze an: Ein Fliegenpilz ist von oben her attraktiver als von unten, die hier gezeigten Buchen-Schleimrüblinge sind dagegen farblos und zeigen auf der Unterseite Lamellen. Sie fotografiere ich lieber von unten. Pilze, die auf dem Waldboden wachsen, lassen sich schlecht von unten inszenieren, vor allem, wenn sie klein sind.

Mit der Unschärfe zu spielen, macht den Reiz der Makrofotografie aus. Mit einer Ausdehnung von 10 Zentimetern und mehr kannst du nicht mit offener Blende arbeiten, um ein schönes Bokeh einzufangen und gleichzeitig eine Schärfentiefe von 10 Zentimetern erwarten. Hier ist das sorgfältige Abwägen der bildwichtigen Elemente angezeigt. In vielen Fällen mache ich mehrere Aufnahmen mit einer anderen Schärfeebene und kombiniere die Fotos in Photoshop mit Fokusstacking.

Anschauliche Erklärung verschiedener perspektivischen Techniken für eine abwechslungsreiche Pilzfotografie.

Was braucht es für die Pilzfotografie?

Die Günstiglösung besteht aus Zwischenringen oder Vorsatzlinsen, die es ermöglichen, den Abbildungsmassstab 1 : 1 oder grösser einzufangen. Wer ernsthaft einsteigen will, kommt um ein Makroobjektiv nicht herum. Ein solches gibt es mit verschiedenen Brennweiten: Mit einer Normalbrennweite um 50 mm kann man ganz nah ans Objekt heran, bei flüchtenden Insekten oder Amphibien keine so gute Idee. Mit einem 100er-, 150er- oder 200er-Makroobjektiv gibt es eine Minimaldistanz, die es erschwert, von unten her die Pilze zu fotografieren. Ich selbst arbeite mit einem Canon RF 100 mm, f/2.8, damit kann ich Pilze von unten fotografieren, die mindestens 25 cm ab Boden stehen. Mit den Canon F 35 mm f/1.8 ist der minimale Abstand wegen der kompakten Bauweise kleiner: Ich brauche da nur etwa 15 cm, um die Kamera mitsamt Objektiv unter das Motiv zu bringen.

«Pilze sind statische Objekte, die nicht wie Waldblümchen im Wind zittern.»

Meine bevorzugten Blendenöffnungen in der Makrofotografie liegen wegen der Schärfentiefe zwischen f/4 und f/8, es sind also auch weniger lichtstarke Objektive geeignet, weil die Belichtungszeit ab Stativ keine Rolle spielt. Pilze sind statische Objekte, die nicht wie Waldblümchen im Wind zittern.

Als weiteres Zubehör verfüge ich über einen Bohnensack (Stoffsäckchen, gefüllt mit getrockneten Bohnen oder Kirschkernen), über ein Gorillastativ und ein leichtes Reisestativ, mit welchem ich etwa einen Meter ab Boden fotografieren kann.

Mit einem Normalhandy ohne Zubehör kann man Pilze natürlich auch fotografieren, nur ist die Unschärfe nicht steuerbar. Was heissen will: Eine gezielte Unschärfe, die das Wesen der Makrofotografie ausmacht, ist damit nicht zu haben.

Junge Buchen-Schleimrüblinge sind winzig, erst später entwickeln sie ihre Lamellenschirme. 1/25 Sek., f3.2, ISO 320.
Junge Buchen-Schleimrüblinge auf einem Baumstrunk. Links von oben fotografiert: Die Gruppe verschwindet im nahen Untergrund, die Perspektive ist verkürzt. Rechts von geradeaus fotografiert: Die Gruppe setzt sich vor dem fernen Hintergrund besser ab, die Stile sind länger.
Die gleiche Gruppe, jedoch mit Kamera und Makroobjektiv fotografiert. Der Unterschied kommt von der generell schärferen Aufzeichnung sowie der Unschärfe im Hintergrund, welche die Form besser zur Geltung bringt. 1/13 Sek., f/3.2, ISO 100.
Geradeaus fotografiert zeigen sich die Schirme seitlich ohne Lamellen. Dafür zeichnet sich der nasse Glanz auf den Schirmen ab. 1/4 Sek., f/5.6, ISO 400.
Von unten her abgebildet, zeigt sich eine Transparenz, die vor dunklem Hintergrund auch wie ein Leuchten erscheint.
0,3 Sek., f/7.1, ISO 100.
Hier werden die Motive zwischen weiter vorn stehenden Pilzen hindurch fotografiert. Die Unschärfekreise im Hintergrund nehmen die runden Pilzformen wieder auf. 1/25 Sek., f/3.2, ISO 250.
Die Kamera liegt auf dem Bohnensack auf dem Boden und zeigt steil nach oben. Ein dreh- und klappbares Display ermöglicht die Bildkontrolle.
Das Licht, welches durch das Blätterdach einfällt, genügt, um die Schirme zum Leuchten zu bringen. Die runden Unschärfekreise im Hintergrund sind Lichtsprengsel zwischen dem Blätterdach.

8 Tipps für Pilzfotografie

1. Der Kontrast zwischen Schärfe und Unschärfe macht die Aufnahmen erst attraktiv. Bei einer offenen Blende von etwa f/3 ist die scharf wahrgenommene Ebene sehr klein, vielleicht zwei Millimeter oder je nach Objektiv auch unter einem Millimeter. Das automatische Fokussieren der Kamera ist in diesen feinen Bereichen nicht mehr möglich, deswegen fotografiere ich stets mit der manuellen Fokussierung (Stellung M am Objektiv).

2. Anders als Esspilze sind Pilze zum Fotografieren klein bis winzig. Am schönsten präsentieren sie sich, wenn sie «auf Augenhöhe» fotografiert werden. Das heisst: auf den Boden mit der Kamera. Da unten ist ein Blick durch den Sucher nicht mehr möglich, mit anderen Worten, ich fotografiere oft mit aufgeklapptem Display und Live-View-Funktion. Im Live-View-Modus siehst du die Unschärfe und kannst die Änderung an der Blende jederzeit sehen. Eine Kamera mit dreh- und schwenkbarem Display und Touchscreen-Funktion zum Auslösen sind vorteilhaft.

3. Die Sonne bringt Helligkeit und Kontrast in den Wald. Die Verschlusszeit kann so generell etwas kürzer gewählt werden. Anderseits ist diffuses Licht vorteilhaft, da der Kontrast reduziert und die Schattenzeichnung weicher ist.

4. Benütze eine feste Unterlage. Ein Bohnensack ist dafür die erste Wahl, weil er schnell und unkompliziert funktioniert. Achte darauf, die Kamera nicht von oben aufs Motiv zu richten. Bei kleinen Pilzen muss die Kamera auf den Boden beziehungsweise auf einen Bohnensack. Bei Höhen ab ca. 20 cm – wenn die Pilze auf einem umgefallenen Baumstamm wachsen – benütze ich ein Gorillastativ oder stelle ich das kleine Reisestativ auf. Das Stativ ist eine dringliche Empfehlung, weil bei schlechten Lichtbedingungen oft Belichtungszeiten angesagt sind, die Verwackelungsgefahr bedeuten. Dafür stelle ich den Bildstabilisator auf «off».

5. Nässe ist wirkt sich grundsätzlich auf das Resultat aus. Die hier gezeigten Buchen-Schleimrüblinge sehen nass fotografiert einfach schleimiger aus als trocken.

6. Der Hintergrund ist ebenso wichtig wie der Vordergrund. Halte zuerst nach einem passenden Hintergrund Ausschau und spähe dann ein Motiv aus. Pilze, die sich in Hanglage oder auf einem vermoderten Baumstrunk befinden, bieten dafür bessere Voraussetzungen als solche auf dem belaubten Waldboden. Man kann sie dort geradeaus, von unten oder von oben ablichten.

7. Suche Lichtpunkte im Hintergrund. Lichtpunkte sind nichts anderes als kontrastreiche kleine Flecken: das Glitzern auf Wasser, aber auch helle Stellen des Himmels, der durch den Wald dringt, oder helles Laub. Lichtpunkte werden in der Unschärfe als Unschärfekreise abgebildet, die sehr attraktiv wirken. Um Unschärfekreise zu entdecken, fokussiere ich die Kamera bei Blende f/4.5 auf einen einzelnen Pilz. Dann wende ich mich mit diesen manuellen Einstellungen ab und suche im Display den Hintergrund für geeignete Unschärfekreise ab. Wenn ich die Unschärfekreise auf dem Sucher habe, sehe ich mich nach einem geeigneten Pilz um. Es ist genau umgekehrt wie vermutet: Ich suche zuerst das Bokeh, dann das Motiv.

8. Die ISO-Zahl stelle ich zwischen 100 und 400 ein. Der Blendenwert liegt bei einer relativ offenen Blende zwischen f/3.2 und f/8. Die Offenblende F/2.8 erzeugt bei meinem 100er-Makro eine zu geringe Schärfentiefe. Ich fotografiere mit der Zeitautomatik (Av), bei der die Verschlusszeit automatisch errechnet wird. Die Fotos halte ich eher auf der hellen Seite, weil zu dunkle Stellen beim nachträglichen Aufhellen eher dazu neigen, Bildrauschen zu erzeugen.

Bokeh und Unschärfekreise

Bokeh kommt aus dem Japanischen und bedeutet «verschwommen, unscharf». Mit Bokeh wird also der unscharfe Teil eines Bildes bezeichnet, der durch die Sensorgrösse, das Objektiv und die Bauweise der Blende hervorgerufen wird. Die unscharfen Kreise, die aus entfernten Lichtpunkten entstehen, heissen Unschärfekreise oder Zerstreuungskreise. Je offener die Blende, desto grösser werden diese Kreise. Je kontrastreicher die Lichtflecken, desto härter werden sie. Mit der Unschärfe wird das Motiv erst aus seiner Umgebung hervorgehoben und betont. Die Unschärfe kann als verwischter Fleck vor dem Motiv liegen oder dann wird sie als Unschärfekreis im Hintergrund sichtbar. Für deutliche Unschärfekreise ist ein grosser Kontrast zwischen Lichtpunkten und Umgebung notwendig. Je weiter die Lichtpunkte für die Zerstreuungskreise entfernt sind, desto unschärfer werden sie. Sie können sich deshalb auch in die vollkommene Unschärfe verlieren, sodass von Kreisen nichts mehr zu sehen ist.

Geduld und genaues Hinsehen bringen überraschende Momente. Wie hier Fliege auf dem Schild des Pilzes. Ist das jetzt ein Fliegenpilz?

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